Ich möchte hier keinen falschen Eindruck entstehen lassen. Nicht alles was Ioannidis im Film sagt ist per se falsch oder irreführend. Es wäre aber auch nicht korrekt zu behaupten, dass Ioannidis damit keinen Schaden anrichtet. Er tritt hier nicht mehr länger als Wissenschaftler auf. John Ioannidis ist in dieser Dokumentation Aktivist, der weiterhin Wissenschaftskommunikation für die eigene Idee betreibt.
Während Ioannidis auf der einen Seite nämlich von den „extremen Stimmen“ und Angstmache spricht, redet er auf der anderen Seite von einem „war on science“ und warnt davor, dass ein angeblich steigender Einfluss von „big pharma“ auf die Wissenschaft irreversibel sein könnte. Und: Ioannidis bezieht sich wiederholt auf andere Krisen – darunter Kriege, Klimawandel, Hunger und Armut – um die Bedeutung von gegenwärtigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu relativieren. Er verwendet das Wort „Krieg“ im Verlauf des Interviews allein an acht Stellen.
Nach all den fragwürdigen Dingen, die Ioannidis allein in dieser Dokumentation geäußert hat, ist der folgende Aufruf von seiner Seite nur schwer zu ertragen: „Ich denke, ein Coming Out würde bedeuten, dass wir versuchen, zu einer Art Normalität zurückzukehren. Und: Eine Möglichkeit ist, zu versuchen, es zu vergessen.“
Das erinnert an einen kürzlich erschienen Essay von Emily Oster für The Atlantic. Darin fordert sie eine pandemische Amnestie. Genau das erfordert jedoch eine zwingende Grundbedingung, die zumindest Ioannidis bislang aus meiner Sicht nicht anbieten kann: Vertrauen und Transparenz.
„Wir haben viele Dinge getan, die wahrscheinlich sehr wenig bewirkt und wahrscheinlich erheblichen Schaden angerichtet haben“, so Ioannidis an anderer Stelle in der Dokumentation. Damit spricht er von angeblichen Kollateralschäden, die höher gewesen seien, als der Nutzen einzelner Maßnahmen. Damit könnte er vereinzelt sogar richtig liegen. Klare Belege liefert er aber nicht.
Aufgrund seiner Liebe zur Kunst, so Ioannidis sinngemäß, habe er eine enorme Voreingenommenheit. Zitat: „Es war also etwas, das wahrscheinlich einen Teil meiner Voreingenommenheit geschaffen hat, meiner persönlichen Voreingenommenheit als Wissenschaftler, weil ich diese andere Perspektive hatte, die ich fühlte: »Meine Güte, das ist so inkongruent mit meiner anderen Seite von mir. Das bringt meine andere Seite komplett um.« Vielleicht war ich aus diesem Grund voreingenommen, aber ich denke, dass viele Menschen auf die gleiche Weise betroffen waren.“
Und das ist das Problem mit der Dokumentation und seinem Protagonisten. Nur an der Oberfläche erfährt man, wer John Ioannidis ist. Denn es sind vor allem unsere Fehler, die uns menschlich machen. Das sollte auch John Ioannidis als Kunstkenner wissen. Für jemanden der kollektive Fehler sehr stark betont, wäre eine strukturelle Analyse für die Entstehung dieser Fehler sehr wichtig.
Statt diese jedoch zu betreiben, greift Ioannidis auf einfachste Feindbilder zurück. Medien, soziale Medien, Politik und Pharmalobby. Nicht einmal die Wissenschaft selbst ist vor ihm sicher. Der Eindruck, dass es sich für ihn um „Feindbilder“ handelt, entsteht dadurch, weil Ioannidis darüber meist nur auf Grundlage von anekdotischer Evidenz erzählt und bei seiner Kritik häufig auf einer abstrakten Ebene verbleibt.
Man darf nicht vergessen, was John Ioannidis in dieser Pandemie auch erleiden musste. Internetgerüchte um den Tod seiner Mutter, lösten bei dieser eine lebensbedrohliche Episode aus. Auch das erwähnt er im Gespräch. Und es erklärt vielleicht auch zu großen Teilen seine Einstellung zu sozialen Medien.
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Die „No-Covid“-Verschwörung - OSTPROG · 26. Januar 2023 at 5:33
[…] wollte auf Verhältnismäßigkeit setzen und prognostizierte ein Pandemieende für Deutschland „gegen Anfang 2022“. Die Pandemie sei ein „Naturereignis“, hieß es […]